Predigt am Sonntag Septuagesimae (20.01.1994) in der Stephanuskirche Deilinghofen


Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen. Amen.

Der heute am Sonntag Septuagesimae (70 Tage vor Ostern) in unseren Kirchen vorgesehene Predigttext besteht nur aus zwei kurzen und auf den ersten Blick recht unscheinbaren Versen. Aus dem Buch des Propheten Jeremia im Alten Testament lese ich aus dem Kapitel 9 die Verse 23 und 24:

So spricht der Herr: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen will, rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herrn bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr.

Damit sich diese beiden Verse aus Jeremia 9 uns einprägen, lese ich sie noch einmal:
So spricht der Herr: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen will, rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herrn bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr.
 

Liebe Gemeinde in Deilinghofen,
gerade weil's heute morgen hier nicht um eine Märchenstunde geht, fang ich jetzt hier mit SCHNEEWITTCHEN an. Genauer mit Schneewittchens Stiefmutter, die ja den besonderen Spiegel hatte, der sprechen konnte. Und jedes Mal, bekanntlich, wenn die schöne Frau Königin sich in diesem Spiegel betrachtete, dann gab der Spiegel ihr Antwort: "Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier!"

Das Märchen Schneewittchen erzählt uns, dass jene Königin solche Selbstvergewisserung, man kann auch sagen: solche sich selbst bespiegelnde Selbstverwirklichung brauchte. Da ist ja im Märchen (und sonst in der Literatur) oft der Spiegel ein Symbol oder Sinnbild dafür, wie der Mensch sein eigenes Ebenbild betrachtet und reflektiert und - um mit sich selbst ins Reine zu kommen - geradezu sein Ebenbild anbeten und vergöttern muss. Gerade das Märchen Schneewittchen zeigt uns, welche brutalen und mörderischen Konsequenzen sowas haben kann, wenn jemand in dieser Selbstreflektion mit seinem Spiegelbild beschäftigt ist: Da kommt dort in diesem Märchen ein schrecklicher Ego-Größenwahn da heraus, dass sie, die die Schönste im ganzen Land sein wollte, ruhmsüchtig und selbstvergötzend, wie sie war, sogar "über Leichen zu gehen" bereit wurde: Schneewittchen muss weg! Denn der Spiegel hatte ihr gesagt, dass Schneewittchen "über den sieben Bergen" (wie wir von der Kinderzeit an wissen) noch  tausendmal schöner als Frau Königin war!

Und von da ist's nicht weit bis zu dem Stoff, aus dem heute die Krimis sind, wenn wir da z.B. in der Zeitung lesen oder im Fernsehen sehen, wie dort in den USA die Goldmedaillenanwärterin im Eiskunstlauf ihre härteste Konkurrentin aus dem Weg räumen ließ, weil - selbstvergötzend und ruhmsüchtig, wie sie war - bitte schön: keine Andere besser Eislaufen sollte, als sie, die Eiskönigin!

Liebe Gemeinde, wenn wir heute mit einem Märchen diese Predigt begannen, dann führt das nicht nur direkt in unsere Gegenwart hinein, dann führt das auch in geradem Wege mitten in unseren heutigen Text hinein, in jene beiden Verse aus Jeremia 9, die vom falschen Sich-Rühmen handeln.

Bei Jeremia steht: So spricht der Herr. Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit und ein Starker nicht seiner Stärke und ein Reicher nicht seines Reichtums, echte und wirkliche Klugheit wäre es stattdessen sich nicht in diesen glänzenden und faszinierenden Dingen zu spiegeln, sondern zu sehen: Ich bin der Herr, dein Gott, ich bin Jahwe, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden!

Ja, was da um 600 vor Christus als Botschaft des lebendigen Gottes an diesen Priestersohn aus Anathoth bei Jerusalem kommt, das ist nichts Anderes als eine vollmächtige Neuauflage des ersten Gebotes: Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir; ja, mach dir vor allem keine Götter in den Dingen, in denen du dich spiegelst - in diesem schrecklichen und teuflischen Spiel der ruhmsüchtigen Ego-Trips: Wer ist die Schönste, wer der Klügste und Tollste, wer ist der Weiseste, wer ist der Stärkste im ganzen Land?

Ja dort - nach dem Buch Jeremia - ist all das Götzendienst, und direkt dahinter in Jeremia 10 wird ein ganzes Kapitel lang in geradezu satirischer Weise gelästert über die selbst fabrizierten Götter und Götzen, die Menschen anzubeten bereit sind und die sie an die Stelle des ersten Gebots stellen. Da liest man sinngemäß: Leute, nehmt doch bloß um Gottes Willen nicht die elenden Götterbilder der Heiden an, diese selbst geschnitzten Holzbilder, die dann mit Gold und Silber behängt werden und die dann mit Hammer und Nagel an der Wand befestigt werden, damit sie nicht umfallen. Genau das steht wenig später wortwörtlich am Anfang von Jeremia 10, und da steht weiter: Das sind doch in Wahrheit nichts anderes als "Vogelscheuchen im Gurkenfeld", so drückt es Jeremia aus, bitter spöttelnd...

Und unser Text heute, liebe Gemeinde, der heute der Predigt vorgegeben ist, der gehört genau dazu!
Die "Standbilder" Weisheit, Stärke und Reichtum, die sich der ewig bespiegelnde Mensch vor sich aufstellt, um sich selbst anzubeten, diese "Standbilder", die sind ganz genauso "Vogelscheuchen im Gurkenfeld". Die aufzustellen heißt: ich stelle den Götzen Ego auf, den man auch erst mal an die Wand nageln müsste mit Hammer und Nagel, um ihn ein bisschen standfest zu kriegen. Ja, wer darauf vertraut, treibt Götzendienst!  Wer seine Schönheit, sein Können, seine Klugheit und Stärke rühmt, nimmt dem den Ruhm weg, dem aller Ruhm gehört.

Liebe Gemeinde, auf den ersten Blick, sagte ich, sind's zwei eher unscheinbare Verse aus dem Jeremiabuch, die unseren heutigen Predigttext bilden. Und doch ist da mit Gottes erstem Gebot - Ich bin der Herr, dein Gott - die ganz zentrale und gar nicht beiläufige und die ganze Bibel und die ganze Welt umschließende und umspannende Wahrheit zum Ausdruck gebracht. An dieser Wahrheit vorbei gibt's nur Dummheit: Wer götzendienerisch das eigene Ego feiert und Stärke, Weisheit und eigenen Reichtum anbetet, wer nur sich selbst bespiegelt, als sei der Mensch Gott und das Maß aller Dinge, der führt sich selbst zuerst und seine Welt dann in den Abgrund.

Und gerade im Sinne des Jeremiabuches, liebe Gemeinde, in dem steht: "Land, Land, höre des Herrn Wort!! und ein Kapitel später: "Gottes Wort ist wie Feuer und wie ein Hammer, der Felsen zerschlägt1", ja gerade im Sinn des Jeremiabuches, das das Wort Gottes in seiner Wucht derart hoch einschätzt, da ist vom heutigen Predigttext aus die ganze Bibel von Anfang an sehr wohl auch ein Spiegel. Nicht so ein Spiegel wie da im Märchen. worin der Mensch sich selbst bespiegelt, um sich als den Besten oder die Beste hinzustellen, sondern genau umgekehrt! Gottes Wort erzählt, den Spiegel vorhaltend, mir die Geschichte, wo mein Selbstruhm hinführt.

Das fängt schon ganz vorn bei Kain und Abel an, dass der Spiegel mir vor's Gesicht gehalten wird: So wie Kain da in der Urgeschichte, so bin ich im Tiefsten, dass ich gelten will genauso sehr oder mehr als Abel, mein Bruder. Weil dieser Hang da ist - ganz tief in mir, dass mir der Ruhm gehören soll, hab ich das in mir, dass ich am Ende meinen Bruder ausschalte - und scheinheilig dann frage: Soll ich meines Bruders Hüter sein?

Und auch das steckt ganz tief in mir, dass ich am eignen Ego baue, dass ich wie in der Urgeschichte dann beschrieben, einen Turm baue, der tollkühn bis zum Himmel reichen soll, damit ich mir einen Namen mache, ein Sinnbild eben von Stärke und Reichtum und Weisheit - und dass ich bei diesem Bauen gottvergessen dazu beitrage, dass mein Turm Gott verdeckt - und alles wird verwirrt.

Ja, im Spiegel von Gottes Wort ist das "als wär's ein Stück von mir", dass ich mir in der Wüste ein Goldenes Kalb bastle, weil ich auf den nicht warten kann, der mir sagt: Ich bin der Herr, dein Gott. Und so könnte ich die ganze Bibel durchgehen: immer wieder nach dem gleichen Muster wird mir der Spiegel vorgehalten, bis hin zu Jesus, der z.B. vom Pharisäer und vom Zöllner erzählt, die beide beten, wobei der Eine dick und fett im Letzten sein eigenes Ego anbetet und seine eigene Frömmigkeit und Leistung hervorhebt: Ich danke dir, Herr, dass ich nicht so bin wie dieser Zöllner und Sünder dort! Wobei ich - den Spiegel des Wortes Gottes vor Augen - längst weiß: Ich steh dem Pharisäer viel näher als dem Zöllner, der ganz ohne Selbstruhm nur sagte: Sei mir Sünder gnädig!

Ja, liebe Gemeinde, das geht noch viel weiter und umspannt von Jeremia 9 aus  die ganze Bibel - bis hin zum 1. Korintherbrief des Paulus, der sich da (wie wir vor 14 Tagen in der Predigt hörten), mit den Feinden des Kreuzes und mit seinen Gegnern auseinandersetzen musste, mit denen, die ihre eigne Heiligkeit und Vollkommenheit rühmten, ihre angeblich superchristliche Erkenntnis und Gnososis, und die, wie wir da hörten, von Schwachheit und dem Kreuz Jesu nichts wissen wollten. Und so kommt's, dass Paulus, ganz an Christus dem Gekreuzigten orientiert, da hineinschleudert - genau mit unseren heutigen Worten aus Jeremia 9: dass solcher Selbstruhm, der am Kreuz vorbeiläuft, Götzendienst ist und dass der, der sich rühmen will, sich des Herrn rühmen soll.

Liebe Gemeinde, der Paulus konnte damals mit seiner Botschaft von diesem Kreuz, das ja allen Selbstruhm im Keim verunmöglicht, "keinen Blumentopf gewinnen". Im Gegenteil: Man dachte damals, was man heute von diesem Kreuz und diesem Gekreuzigten denkt: Es ist dumm und töricht, solch ein Bild der Schwäche im Zentrum des Glaubens zu akzeptieren. Doch Gott gefällt es - damals wie heute - genau durch dieses dumm und töricht Scheinende Menschen den Spiegel vorzuhalten, sie zur Umkehr zu locken und sie Rettung finden zu lassen.

Denn: Nur da am Kreuz komm ich raus aus dem Ego-Spiel: "Spieglein, Spieglein an der Wand", wer ist der Schönste / Beste / Stärkste! Das wird da durchkreuzt, buchstäblich, wo ich Jesus, den Herrn, an diesem Kreuz erkenne und wo ich ihn den sein lasse, der für mich das erste Gebot, meine Nr. 1 ist und sein will. Nur da am Kreuz, da hört mein Herz auf, eine "Götzenfabrik" zu sein, wie Luther es mal ausdrückte, und da am Kreuz kommt im Vollsinn das zum Zug, was Jeremia 9 viele Jahrhunderte vor Jesu Kreuz schon anzeigte:

Wer sich rühmen will, rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herrn bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr.

Liebe Gemeinde hier in der Stephanuskirche: in diesem Sinn kann die "allgemeine Beichte", die jetzt folgt, ein Spiegel sein aus Gottes Wort, der mir mein Verderben offen legt, und das folgende Abendmahl dann ein Zeichen des sündenvergebenden Herrn, der hier in uns den Götzendienst der  eitlen Selbstbespiegelung abschaffen will und durch uns und um uns herum seine Barmherzigkeit, sein Recht und seine Gerechtigkeit zum Zug kommen lassen will. Das gebe Gott!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.